Jedes Land, jedes Gebiet und jede Gemeinde ist einzigartig. Sie unterscheiden sich nicht nur in Ort und Größe sondern auch durch unzählige soziale, historische und wirtschaftliche Besonderheiten. Diese Einzigartigkeit zu verstehen und zu berücksichtigen ist ein wichtiger Teil jeder wirkungsvollen und erfolgreichen BürgerInnenbeteiligung.
Denn es gibt in der BürgerInnenbeteiligung kein Patentrezept, das unabhängig von den Gegebenheiten vor Ort immer funktioniert.
Erfolgreiche Beteiligungsprojekte werden nach den speziellen Herausforderungen vor Ort konzipiert anstatt zu versuchen, die Gegebenheiten in eine Standard-Methode zu pressen.
Gerade digitale BürgerInnenbeteiligung hilft Regierungen, ihre Herausforderungen auf eine moderne und kollaborative Weise anzugehen. Aber um ihre volle Wirkung zu entfalten, muss die digitale BürgerInnenbeteiligung gezielt dazu genutzt werden, die für die BürgerInnen wichtigen Themen zu behandeln. Und um diese Handlungsfelder identifizieren zu können, muss man die Situation vor Ort genau analysieren.
Nur wer die Besonderheiten vor Ort kennt und berücksichtigt, kann mit einer signifikanten Teilnehmerzahl bei den Beteiligungsprojekten rechnen. Denn nicht zuletzt die Art und Kanäle der Kommunikation sollten sich je nach Zielgruppe und Thema unterscheiden. Wenn man beispielsweise vor allem Menschen erreichen will, die älter als 65 sind, sollte sich die Kommunikation stark unterscheiden von dem Fall, wenn das Thema vor allem für Studenten relevant ist.
So trivial das klingt, wird es doch häufig nur oberflächlich angegangen - auch in der digitalen BürgerInnenbeteiligung. Häufig liegt der Fokus allein auf der technologischen Implementierung einer Beteiligungsplattform. Die Kommunikation wird dann per Handbuch erledigt.
Wir bei Civocracy sind der Meinung, dass es sich lohnt, etwas tiefer in die Analyse der Situation vor Ort einzutauchen, zu analysieren, was Bürgerinnen und andere Stakeholder brauchen, wo sie sich aufhalten, wie sie angesprochen werden wollen.
Und es gibt noch einen weiteren, sehr wichtigen Aspekt, der zu häufig nicht beachtet wird: die Partizipationskultur in der Bürgerschaft.
Die Analyse der Kultur und der Geschichte der BürgerInnenbeteiligung kann extrem hilfreich dabei sein, ein wirkungsvolles Partizipationsprojekt aufzusetzen.
Die Analyse der Beteiligungskultur
Unabhängig davon ob die Bürgerinnen Beteiligungsexperten oder Neulinge sind, digitale BürgerInnenbeteiligung lohnt sich (fast) immer.
Aber das heißt nicht, dass die Erfahrung auf dem Gebiet keine Rolle spielt. Die jeweilige Expertise auf dem Gebiet ist ein entscheidender Faktor bei der Überlegung, wie man ein Beteiligungsprojekt so aufsetzt, dass es die maximale Wirkung entfalten kann.
Bei Civocracy unterscheiden wir grob zwischen vier Erfahrungsstufen.
1 Die Neulinge
Für viele Regierungen und Verwaltungen und deren Bürgerinnen ist die digitale Beteiligung weitestgehend Neuland.
Das muss aber kein Hindernis für ein Beteiligungsprojekt sein - entscheidend ist hier eine realistische Einschätzung der Beteiligungskultur.
Ohne eine ((digitale) Beteiligungstradition haben wahrscheinlich weder die BürgerInnen noch die Verwaltung das Thema auf dem Schirm. Es gehört weder für die eine noch die andere Gruppe zum Alltag.
Um das zu ändern, muss allen Beteiligten die Möglichkeit gegeben werden, sich mit dieser neuen, flexiblen Form der Zusammenarbeit anzufreunden.
Und das ist ein großer Transformationsprozess. Hier wird eine neue Denkweise etabliert, eine andere Kultur und neue Fähigkeiten - und das geht nicht von heute auf morgen.
Das erste digitale Beteiligungsprojekt sollte dementsprechend aufgesetzt werden.
In diesem Fall sollte eine zielgerichtete Kommunikation im Vordergrund stehen. Die Botschaft einer flexiblen, auf die BürgerInnen zugeschnittenen Beteiligung muss in alle Richtungen kommuniziert werden. Im Zentrum sollte die einfache Bedienung, die Flexibilität und die Wirksamkeit stehen. Es geht darum einen kleinen Hype um das Projekt zu erzeugen.
Als die Stadt Hatten in Niedersachsen anfing, die Civocracy Plattform zu nutzen, luden sie alle Lokaljournalisten, Politiker und interessierte BürgerInnen zu einer Veranstaltung ein, bei der diese einen Vorab-Blick auf die Plattform werfen konnten. Die Teilnehmer waren dann Botschafter in ihre Netzwerke und halfen dabei, die Plattform zu einem Erfolg zu machen.
Es ist wichtig, ein Beteiligungsprojekt sowohl mit Offenheit als auch mit Lernbereitschaft anzugehen. Eine BürgerInnenbeteiligungskultur aufzubauen ist ein Prozess, der auch Experimente beinhaltet. Jede Gemeinde wird auch Rückschläge im Prozess erleben. Entscheidend ist, dass die Beteiligten daraus lernen und nicht aufhören zu experimentieren.
Zum Beispiel könnte man mit einer Konsultation zu einem Thema starten, von dem man weiß, dass es viele Menschen interessiert. Als beispielsweise Lyon 2018 erste Schritte in die digitale BürgerInnenbeteiligung gehen wollte, haben sie als erstes Projekt eine Konsultation zur Umgestaltung eines beliebten Platzes gewählt.
Wenn es schwer fällt, ein gutes Thema zu finden, kann ein Fragebogen dabei helfen, ein besseres Gefühl dafür zu bekommen, bei welchen Themen die BürgerInnen gerne mitreden würden.
Aber der wichtigste Schlüssel zur Etablierung einer Beteiligungskultur ist, den BürgerInnen zu zeigen, dass sich Engagement für sie lohnt. Es geht um Wirksamkeit. Es ist viel besser, mit nur einem Projekt zu starten, dass dafür aber Veränderung mit sich bringt, als vier Projekte parallel zu starten, die dann in der Bedeutungslosigkeit versinken. Aber wenn BürgerInnen den Willen erkennen, ihre Ideen ernst zu nehmen und zu berücksichtigen, werden sie es mit verstärkter Beteiligung in Folgeprojekten zurückzahlen.
2 Die Offliner
Die meisten Kommunen können auf eine lange Beteiligungsgeschichte zurückblicken. Meistens sprechen wir hier aber von der klassischen offline BürgerInnenbeteiligung.
Wenn nicht irgendwann der Schritt zur digitalen Beteiligung gegangen wurde, erleben diese Kommunen häufig einen schleichenden Rückgang des Engagements.
Digitale Beteiligung in ihre Projekte zu integrieren ist in diesem Fall häufig genau was es braucht, um die Beteiligungskultur wieder zu beleben. Durch neue Beteiligungskanäle werden andere und mehr Menschen erreicht, die neue Perspektiven einbringen und das Gemeinschaftsgefühl stärken.
Aus unserer Erfahrung eignen sich digitale Werkzeuge ausgezeichnet als Zusatz zu den traditionellen Methoden. Wenn man beides zusammen plant, können offline und online sich ausgezeichnet ergänzen und für eine breitere und wirksamere Beteiligung sorgen.
Um so eine Verschränkung erfolgreich aufzusetzen, benötigt man eine genau Kenntnis darüber, welche Formate oder Initiativen der Vergangenheit besonders gut funktioniert haben und wo es Verbesserungspotential gibt. Darauf aufbauend sollte man die digitalen Formate wählen.
Finden beispielsweise regelmäßig Bürgersprechstunden statt aber es kommen immer die gleichen Menschen? Digitale Beteiligung ermöglicht auch Menschen sich einzubringen, denen es nicht möglich ist zu bestimmten Terminen in das Rathaus oder in die Bürgerhalle zu kommen. Vorschläge und Rückmeldungen können so beispielsweise schon in der Vorbereitung der Sprechstunde gesammelt werden.
In Monheim am Rhein war es beispielsweise der Fall, dass der Bau eines neuen Radwegs auf einen Vorschlag auf der Civocracy Plattform zurückging. Der Bürger, der den Vorschlag gemacht hatte, hatte sich vorher nie eingebracht, weil er aufgrund seiner Arbeitszeiten die Bürgersprechstunden nicht besuchen konnte.
Gibt es ein jährliches Stadtfest, dass zwar die ältere aber weniger die jüngere Generation anzieht? Hier könnte eine digitale Plattform genutzt werden um gezielt junge Menschen in die Planung und Ausgestaltung des Festes einzubinden.
Die Möglichkeiten, offline Formate durch digitale Methoden neues Leben einzuhauchen sind vielfältig.
3 Die gebrannten Kinder
Die nächste Kategorie sind Kommunen, die bereits Erfahrungen mit on- und offline Beteiligung gesammelt haben aber mit den Ergebnissen unzufrieden sind. Oft wird zusätzlich zu den Bürgersprechstunden die eigene Website dazu genutzt, Veranstaltungen zu bewerben und gegebenenfalls auch, um Feedback der BürgerInnen aufzunehmen. Häufig sind diese Angebote nicht von dem Erfolg gekrönt, den man sich vorgestellt hatte und bei den meisten Bürgerinnen sogar nicht bekannt.
Das ist ein häufiges Phänomen weil BürgerInnenbeteiligung ein sehr komplexes Thema ist. Beteiligung anzuregen und diese in spürbare Veränderung umzuwandeln ist eine große Herausforderung, die sich bei jedem Projekt neu stellt.
Der Lösungsansatz kann hier eine neue Perspektive auf Wirksamkeit sein. Anstatt mehrere Beteiligungsprojekte parallel laufen zu lassen, nach dem Motto “viel hilft viel”, die allerdings alle wenig Aufmerksamkeit erhalten, sollte man sich lieber auf weniger Projekte konzentrieren, diese aber professionell aufsetzen. Ein klar definierter Zeit- und Projektplan inklusive einer tiefgehenden Analyse der Ergebnisse sind die Grundsteine für messbare Ergebnisse.
Verschiedene digitale BürgerInnenbeteiligungsformate bieten dafür den optimalen Rahmen.
Das partizipative (oder Bürger-) Budget beispielsweise, bietet den BürgerInnen die Möglichkeit, ein integraler Bestandteil für neue Stadtprojekte zu werden. Und indem die Regierung einen Teil des eigenen Budgets für Bürgerprojekte freigibt, verpflichtet sie sich, Veränderung im Sinne der Bürgerinnen mitzutragen und umzusetzen.
Die Erfahrung der BürgerInnen, mit dem eigenen Engagement direkt die Stadtplanung und -entwicklung beeinflussen zu können, wirkt Wunder im Bezug auf zukünftige Beteiligungsprojekte
4 Die digitalen ExpertInnen
Es gibt sie natürlich auch. Die Experten in der digitalen Bürgerinnenbeteiligung. Diese Kommunen haben fast immer mindestens eine Person in ihrer Verwaltung, die sich speziell um die Planung und Umsetzung von on- und offline Beteiligung kümmert und die nötigen Ressourcen zur Verfügung hat. Das ist immer ein Grund zu feiern - aber nicht um sich zurückzulehnen.
Echte Kompetenz auf dem Gebiet der digitalen Beteiligung ermöglicht viel gezieltere Projekte und spannende, innovative Ansätze. Hier kann die Beteiligung ein echter Game-Changer werden und beispielsweise sensible Themen entschärfen, auch wenn diese nicht beteiligunspflichtig sind.
In Strasbourg beispielsweise wurde die Reform der Schulzeiten mit einem Mix aus off- und online Formaten partizipativ umgesetzt. Neben onsite Workshops wurden online Fragebögen und Konsultationen genutzt, um dieses emotionale Thema gemeinsam anzugehen und ohne größere Komplikationen umzusetzen.
Wenn Regierungen und Verwaltungen die Kompetenz für wirksame Bürgerinnenbeteiligung schon besitzen, können sie sich an noch komplexere Formate wie zum Beispiel Bürgerräte wagen.
Aber auch in “Experten-Kommunen” mit einer starken Beteiligungskultur gibt es sicherlich immer noch Gruppen von Menschen, die sich stärker einbringen als andere. Entsprechend lohnt es sich immer wie man noch mehr Menschen erreichen und einbinden könnte als bisher.
Bürgerinnenbeteiligung ist ein Feld, dass sich rasend schnell weiterentwickelt und interessante Anwendungsfälle für alle Regierungen und Organisationen bereithält. Bei so einer Fülle an Möglichkeiten ist es besonders wichtig zu verstehen, auf welchem Level sich die jeweilige Kommune oder das jeweilige Gebiet befindet. Das Maß an vorhandenen bürgerlichen Engagements in die Planungen mit einzubeziehen, ist ein entscheidender Schritt auf dem Weg zu einem gesunden und gestärkten Gemeinschaftsgefühl. Wenn Sie wissen wollen, welche Beteiligungsformate für Sie die richtigen sind, schreiben Sie mir unter roland@civocracy.org
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