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Best Practices ignorieren - eine Geschichte über einen richtig guten Fragebogen

Eine der beliebtesten Formen der Bürger:innenbeteiligung ist das Einholen von Feedback und Ideen. Die Verwaltung möchte wissen, was die Menschen denken, und dieses Feedback im besten Fall in das jeweilige Projekt einfließen lassen.


Es gibt verschiedene Möglichkeiten, Feedback von den Bürgern einzuholen - sei es in Form von Bürgerversammlungen, Workshops oder der Möglichkeit, Kommentare zu Plänen abzugeben. Das am häufigsten verwendete Format ist aber der Fragebogen. Wenn eine Stadt oder eine Organisation wissen möchte, was die Menschen denken oder wollen, geben sie fast immer einen Fragebogen heraus. Das ergibt Sinn, weil Fragebögen gut verbreitet werden können und die Ergebnisse relativ leicht verglichen werden können.


Wenn Feedback-Fragebögen entworfen werden, sind die Fragen in der Regel recht direkt. Sie wollen wissen, was eine Person über etwas denkt? Sie fragen: Was denken Sie darüber? Sie wollen wissen, was eine Person möchte? Sie fragen: Was wollen Sie?


Klingt logisch. Aber in der Realität ergibt das in vielen Fällen keinen Sinn.


Wie man nicht nach Ideen fragen sollte


Nehmen wir eines unserer jüngsten Projekte. Eine Stadt, mit der wir arbeiten, hatte ein Problem. Sie gibt eine Menge Geld für ihre Kultur aus. Konkret werden Theater, Galerien, Konzerthäuser und dergleichen mehr unterhalten. Aber das Publikum in den Veranstaltungen wird immer älter wird und einige Angebote erregen gar nicht erst die erhoffte Aufmerksamkeit . Die Stadt, genauer gesagt, das Kulturamt, ist der Meinung, dass es an der Zeit ist, das kulturelle Angebot neu zu gestalten. Aber wie?


An dieser Stelle kam die Beteiligung ins Spiel. Das ergibt Sinn, denn in diesem Fall ist der Bürger auch der Kunde. Die Stadt wollte wissen, wie das derzeitige Kulturangebot wahrgenommen wird, und sie wollte Vorschläge, was man ändern könnte.


Der naheliegende Weg war, einen Fragebogen zu entwerfen, was auch getan wurde. Am Anfang sah dieser Fragebogen ungefähr so aus:


  • Frage 1 - Wie nehmen Sie die Kultur in unserer Stadt wahr?

  • Frage 2 - Welche der folgenden Angebote kennen Sie? [Angebote zur Auswahl]

  • Frage 3 - Wie können wir das kulturelle Angebot in der Stadt verbessern?


Wir hatten etwa 15 sehr direkte Fragen. Es war ein "Best-Practice-Verfahren" - so wie jede andere Stadt auch einen Online-Fragebogen erstellen würde.


Es dauerte ein paar Tage bis in einer der Sitzungen es eine Person wagte, eine ketzerische Frage zu stellen.

"Leute, kennt ihr das berühmte Zitat von Henry Ford: "Wenn ich die Menschen gefragt hätte, was sie wollen, hätten sie gesagt: schnellere Pferde? Was erwarten wir also eigentlich, wenn wir solche Fragen stellen?"

Daraus entwickelte sich ein sehr produktives Gespräch. Natürlich wussten wir, dass wir mit dem Feedback der Bürger arbeiten wollten. Aber die Art und Weise, wie die Fragen gestellt wurden, würde zwangsläufig zu allgemeinen Antworten führen, die wahrscheinlich die Aspekte, die wirklich geändert werden müssen, nicht berücksichtigen würden.

Der Grund dafür ist klar. Niemand ist so tief in das kulturelle Angebot eingearbeitet wie die Beamten, die jeden Tag damit arbeiten. Gleichzeitig sind die konkreten Vorschläge, die ein normaler Bürger machen kann, begrenzt. Sie sind keine Experten auf diesem Gebiet. Sicher, ihr Feedback zu Ideen kann aufgrund ihrer speziellen Perspektive sehr wertvoll sein. Aber zu verlangen, dass sie mit Ideen aufwarten, an die die Experten noch nie gedacht haben, ist ziemlich optimistisch. Die Chancen, dass unter diesen Vorschlägen einige sind, die zum einen realistisch sind und zum anderen in der Verwaltung noch nicht angedacht wurden, sind sehr gering. Wir mussten uns Fragen einfallen lassen, die uns ein Feedback liefern, das wir effektiver nutzen können.

Ein Tech-Ansatz für einen Fragebogen zur Kultur


Also haben wir uns an diejenigen gewandt, die sehr gut darin sind, Fragen zu stellen - unser IT-Team. Es ist ihre Aufgabe, unsere Bürgerbeteiligungsplattform ständig zu verbessern. Und neben unserer eigenen Produktvision ist das Feedback der Nutzer und Kunden die zentrale Leitlinie für die Weiterentwicklung. Deshalb führt unser Tech-Team so viele Nutzer:inneninterviews wie möglich durch.


Ihr Ansatz: sie fragen nie, welche Funktionen ein Kunde wünscht. Sie versuchen, das Verhalten des Nutzers und seine wichtigsten Bedürfnisse zu verstehen und entwickeln die Funktionen entsprechend.


Diese Erfahrung wollten wir nutzen. Deshalb haben wir unser Tech-Team gebeten, den Fragebogen gemeinsam mit der Stadt und unseren Engagement-Experten zu entwickeln. Das Ergebnis sah ganz anders aus als der erste Entwurf. Die Stadt verwendete jetzt Fragen wie:


  • Was war das beste kulturelle Ereignis, das Sie im letzten Jahr erlebt haben (in der Stadt oder anderswo) und warum?

  • Was erwarten Sie, wenn Sie eine kulturelle Veranstaltung besuchen?

  • Wenn Sie zu Hause sind - was lesen, sehen oder hören Sie am liebsten?


Die Fragen waren nicht mehr so eindeutig, aber es ging darum, die Bürgerinnen und Bürger kennen zu lernen, was sie mögen und was sie nicht mögen, wie sie sich verhalten und was für sie wichtig ist.

Die Partizipations-Expert:innen könnten jetzt sagen, dass dies kein wirklich neues Konzept ist, weil Design Thinking-Elemente immer häufiger in der Offline-Beteiligung eingesetzt werden. Das ist richtig. In der Offline-Beteiligung (mit entsprechendem Budget) wird das ab und zu gemacht. Aber wenn es um Online-Fragebögen geht, ist dieses Konzept definitiv unterrepräsentiert.


Der Fragebogen war dazu nicht das einzige Format, das wir einsetzten. Um eine stärkere Bottom-up-Beteiligung zu ermöglichen und blinde Flecken zu entdecken, hat die Stadt auch eine Ideenbox auf ihrer Civocracy-Projektseite eingerichtet.


Würde der neue Ansatz erfolgreich sein?


Als der Tag der Veröffentlichung näher rückte, wurden wir ein bisschen nervös. Konnte diese Art von Fragebogen wirklich funktionieren? Was wäre, wenn die Menschen sie als aufdringlich empfänden und niemand den Fragebogen ausfüllen würde? Die Stadt gab Pressemitteilungen heraus und startete sogar eine Werbekampagne in den sozialen Medien, aber wir wussten nicht, ob das ausreichen würde. Es war beunruhigend und spannend gleichzeitig.


Am ersten Tag ertappten wir uns dabei, dass wir die Seite ständig aktualisierten, um zu sehen, ob die Leute tatsächlich teilnehmen würden.


Es stellte sich heraus, dass unsere Sorgen unberechtigt waren. Wir haben fast 8.000 Antworten auf unsere Fragen erhalten. Die Rücklaufquote war niedriger als üblich, was bedeutet, dass mehr Personen nicht alle Fragen des Fragebogens beantwortet haben. Bei dieser Art von Fragen war dies aber zu erwarten. Es war keine schnelle und einfache Erhebung. Es handelte sich um eine ausführliche Befragung, und das ist immer anspruchsvoll, was dazu führt, dass mehr Menschen den Fragebogen nicht ausfüllen.


Dafür waren die Antworten, die wir erhalten haben, so viel hochwertiger als gewöhnlich. Sicherlich ist die Analyse bei diesem Ansatz viel schwieriger. Aber das liegt daran, dass man das Feedback der Leute wirklich einbezieht, anstatt nur zu fragen, um der Befragung willen? Für uns ist klar: Wir würden diesen Weg jederzeit wieder wählen.


Bei unserem Abschlussgespräch haben wir eine zentrale Erkenntnis gewonnen, die unserer Meinung nach für viele Beteiligungsprojekte zutrifft.


Vertrauen Sie nicht auf Best Practices


Wenn wir das getan hätten, was alle tun, hätten wir die gleichen begrenzten Ergebnisse erzielt wie alle anderen auch, mit den gleichen begrenzten Effekten. Wir sind froh, dass wir nicht den üblichen Weg eingeschlagen haben.


Wir wissen aber auch, dass bei Beteiligungsprojekten, insbesondere im öffentlichen Sektor, verzweifelt nach Best Practices gesucht wird. Und wir verstehen diese Denkweise. Sie entspringt dem Bedürfnis nach Sicherheit. Wenn alles schief geht, kann man immer noch darauf verweisen, dass man genau das getan hat, was andere auch schon getan haben. Der Grund für das Scheitern kann also nicht bei einem selbst liegen.


Dieser Ansatz ist jedoch der ultimative Blocker für Innovation. Und in Zeiten enormer Herausforderungen, gepaart mit geringem Engagement, brauchen wir dringend Innovationen, um voranzukommen. Deshalb raten wir dazu, Risiken einzugehen, Engagement anders anzugehen. Schauen Sie nicht immer darauf, was andere tun und wie. Deren Best Practices sind meist auch nicht wirklich gut. Stattdessen lohnt es sich, darüber nachzudenken, was Sie erreichen wollen, was Sie anders machen könnten und wo Sie Inspiration außerhalb des Beteiligungssektors finden.


Es gehört zur Innovation, dass man scheitern kann. Wenn man ein Risiko eingeht, kann es auch komplett schiefgehen. Aber wir glauben, dass nur diese innovative Denkweise letztlich zu Beteiligungsprojekten führen wird, die wirklich die Kraft freisetzen, die eine Gesellschaft haben kann. Wir hoffen, dass wir in Zukunft noch mehr solcher inspirierenden Geschichten hören werden.


Wenn Sie gemeinsam solche Geschichten schreiben wollen, melden Sie sich bei uns: engagement@civocracy.org


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